01.07.2016 12:30 "Die ganze Wahrheit über alles" KenFM im Gespräch mit: Mathias Bröckers - Die Zeiten, in denen der Mensch am Ast der eigenen Existenz gesägt hat, sind
lange vorbei. Mittlerweile ist er dazu übergegangen, den ganzen Wald um sich
herum abzufackeln. Der Mensch übertreibt. Auf allen Gebieten. Ihm ist vor allem
die Erkenntnis abhanden gekommen, dass er als Teil der Natur nicht ohne eben
diese überleben kann. Die Krone der Schöpfung ist eine hohle Nuss, vor allem
wenn es darauf ankommt. [Quelle: KenFM] JWD
Quelle: KenFM | veröffentlicht
01.07.2016
Menschen leben seit Langem in immer abstrakteren Welten. In Großstädten, mit
Gesetzen, Verhalten, Politischen Ideen. Das alles sind keine natürlich
vorkommenden Produkte, sondern wurden vom Menschen für den Menschen erdacht und
umgesetzt. Dahinter steckte im Kern immer die Idee, sich die Erde untertan zu
machen. Gefügig zu machen.
Was über Jahrtausende relativ erfolgreich funktionierte, hat spätestens im 21.
Jahrhundert seinen Zenit überschritten. Der Mensch neigt dazu, übers Ziel
hinauszuschießen. Die Dosis macht das Gift.
Egal wie gut ein gesellschaftliches Konzept, eine Idee, eine Technologie auch
sein mag, ab Punkt X kommt es zur Überdosis und damit zu einem toxischen Effekt.
Hier hilft nur, die Notbremse zu ziehen, eine echte Analyse zu wagen und dann an
den Punkt zurück zu rudern, an dem alle aus dem Ruder lief.
Älteren Menschen fällt das besonders schwer. Sie kennen nur die Welt, die sie
selber geschaffen haben und wollen sich keine andere vorstellen.
Also müssen die jüngeren ran. Sie müssen, um es salopp auszurücken, die Karre
aus dem Dreck ziehen, denn ihr Überleben hängt davon ab.
Alles, was die Alten jetzt noch tun können, ist ihr grandioses Scheitern auf den
allermeisten Gebieten einzuräumen. Gut gemeint war schon immer das Gegenteil von
gut. Seht euch um.
Mathias Bröckers und Sven Böttcher sehen den Status Quo der Spezies Mensch
dennoch mit Humor und haben einen extrem kurzweiligen Ratgeber für die nächste
Generationen geschrieben.
„Die ganze Wahrheit über alles - Wie wir unsere Zukunft doch noch retten können“
KenFM traf sich mit Mathias Bröckers, um mit ihm über den Ratgeber zum Überleben
unser eigenen Spezies zu sprechen. Es wurde viel gelacht.
Fazit: Wir haben kaum eine Chance, aber nutzen wir sie.
01.07.2016 [Quelle: nds.de] „Die ganze Wahrheit über alles“ –
eine Gebrauchsanleitung für die Zukunft
Man kann’s ja doch nicht ändern? Es ist alles viel zu kompliziert und es gibt
keine Lösungen? Falsch, es ist alles ganz und gar nicht so kompliziert, wie uns
die wenigen Gewinner im globalen Optimierungsspiel nur allzu gern glauben
lassen. Gut gemeint war wahrscheinlich viel – von Agrarrevolution bis
Demokratie, von Kapitalismus bis Wachstum und Zuwanderung. Nur: Daraus gemacht
haben wir meist ein Riesendesaster. Mathias Bröckers und Sven Böttcher liefern
mit ihrem neuen Buch „Die ganze Wahrheit über alles“ eine Gebrauchsanleitung für
die Zukunft – für alle, die noch eine haben wollen. Hier ein Auszug.
Freihandel
Screenshot | Quelle: KenFM
Was gemeint war: Internationaler Handel ist kein neuartiges Phänomen. Die
ersten Menschen allerdings entfernten sich normalerweise nicht mehr als etwa 30
Kilometer von ihrem Geburtsort. Und wäre das Nahrungsangebot nicht auf Dauer zu
knapp geworden, hätten sie sich wahrscheinlich nie über diesen Radius
hinausbewegt – und der Welt wäre viel Ärger erspart geblieben. Die rasche
Vermehrung und Klimaveränderungen sorgten dann aber bald dafür, dass unsere
Vorfahren als Nomaden jagend und sammelnd umherstreifen mussten. Die Entwicklung
des Ackerbaus (?Landwirtschaft) und die technischen Entwicklungen des Verkehrs
und Transportes ermöglichten dann auch Kontakte, Handel und ?Krieg über immer
größere Entfernungen. Auch wenn sich das Imperium der Römer »nur« von den
Britischen Inseln bis nach Nordafrika erstreckte, existierten auch schon zu
dieser Zeit Handelswege bis nach China. Das Reich des Mongolenkaisers Dschingis
Khan reichte im 13. Jahrhundert von der Donau bis nach Indien, und seit dem 16.
Jahrhundert dehnten die europäischen Kolonialmächte ihre (Handels-)Machtbereiche
um den gesamten Globus aus.
Was wir daraus gemacht haben: Der Kolonialismus – die Eroberung fremder
Territorien samt Unterwerfung, Vertreibung oder Ermordung der ansässigen
Bevölkerung – wurde im 20. Jahrhundert eingestellt. Immerhin und zumindest
offiziell verbieten heutzutage internationale Vereinbarungen und die Allgemeine
Charta der Menschenrechte, in militärisch unterlegene Länder einzufallen, wie es
zuerst die Spanier und Portugiesen und dann Frankreich und vor allem
Großbritannien jahrhundertelang getan haben. So sind unter den knapp 200
Nationen der Erde nur 22 Länder, in die die Briten zu irgendeinem Zeitpunkt der
Geschichte nicht einmarschiert wären – und ihre Erben als imperiale Weltmacht,
die ?USA, sind mit mittlerweile 144 Stützpunkten und 1000 Militärbasen in aller
Welt auf gutem Weg, diesen Rekord noch zu brechen. Diese militärische Präsenz
der ehemaligen und aktuellen Großmächte macht deutlich, dass die Welt in den
letzten Jahrhunderten schon immer »globalisiert« war und es nach wie vor ist –
wie in den meist verwüstet und ausgeplündert in die »Unabhängigkeit« entlassenen
Kolonialstaaten, die in der Schuldenfalle von Weltbank und IWF festsitzen
(?Schulden) und ihr profitables »Tafelsilber« (Rohstoffe, Staatsunternehmen) an
multinationale Konzerne abgegeben haben.
Um ihre auf Macht und Militär basierende Kolonialpolitik als »zivilisatorisch «
zu verkaufen, erfanden die Briten im 18. Jahrhundert einen Marketingbegriff, den
ihre amerikanischen Cousins bis heute verwenden: Freihandel. Weil die British
East India Company die begehrten Seidenstoffe, Tees und Gewürze aus China nicht
mit den landestypischen Exportartikeln – Wolle und Eisen – bezahlen konnte und
kein Silber dafür opfern wollte, begann sie aus ihrer frisch eroberten Kolonie
Indien Opium nach China zu liefern. Über das kaiserliche Import- und Rauchverbot
setzten sich die Briten unter der Flagge des Freihandels hinweg und lieferten
Jahr für Jahr steigende Opiummengen nach China; 1838 waren es 2680 Tonnen. Als
dann 1839 der brave Zollaufseher Lin Tse-Hu 950 Tonnen des lukrativen Stoffs
vernichten ließ, begann England den Opiumkrieg, an dessen Ende es dank seiner
Kanonenboote Hongkong und fünf weitere chinesische Hafenstädte erobert hatte.
Was das Geschäft weiter ankurbelte: 1880 wurden über 7000 Tonnen aus Indien nach
China geschifft, mindestens zehn Millionen Chinesen waren nunmehr abhängig,
Opium das umsatzstärkste Produkt des damaligen Weltmarkts und Britannien als
Weltmarktführer auf dem Gipfel seiner Macht.
Den Einwand, dass wir hier ein extremes Beispiel aus grauer Vorzeit anführen,
das mit dem heutigen Freihandel nicht vergleichbar ist, müssen wir zurückweisen.
Zum einen findet äußerst legerer Freihandel mit illegalen ?Drogen nach wie vor
statt – wobei das Zentrum der Produktion merkwürdigerweise häufig da liegt, wo
der derzeitige Weltmarktführer gerade Krieg führt (Vietnam/Goldenes Dreieck in
den 60er und 70er Jahren, Afghanistan/Pakistan 2002 ff.) –, zum anderen sind die
weniger illegalen und etwas sanfteren Methoden des Freihandels kaum weniger
kriminell. Naomi Klein hat sie in ihrem Buch Die Schock-Strategie faktenreich
beschrieben: Nach dem »Schock« durch eine Währungskrise oder einen Militärputsch
reiten die »Chicago Boys« ein, die von Milton Friedman, dem Papst des
Neoliberalismus, an der Rockefeller-Universität Chicago seit 1946 ausgebildeten
»Experten«, und verfüttern in drei Akten – Deregulierung, Privatisierung,
Sozialkürzungen – die verbliebenen Reichtümer des Landes an private
Interessenten. Was nur geht, weil die Kredite von IWF und Weltbank, die das
unter Schock stehende Land dringend braucht, erst fließen, wenn diese Troika an
Maßnahmen ergriffen worden ist.
Und wo nicht gleich ein ganzer Staat samt Renten- und Krankenversorgungssystem
auf »privat« umgekrempelt werden kann, da fordern z.B. die »Freihändler« der EU
etwa von afrikanischen Ländern den Abbau von Zollschranken – um dann mit dem
Export von spottbilligem, weil hoch subventioniertem Hühnerfleisch dafür zu
sorgen, dass sich Geflügelzucht in Afrika nicht mehr rechnet und die Landwirte
pleitegehen (?Hunger). Auch dies ist kein extremes Beispiel, sondern ein
typisches, das klar macht, was Globalisierung bedeutet: Sie setzt einen
westafrikanischen Hühnerfarmer mit einem industriellen Zuchtbetrieb in Europa
ebenso in Konkurrenz wie ein europäisches Textilunternehmen mit dem Sweatshop in
einer asiatischen Freihandelszone. Der Preis für eine Ware wird auf dem
Weltmarkt nicht in freiem Wettbewerb ausgehandelt, sondern stets von dem
unterboten, der eine Region mit noch billigeren Lohnsklaven gefunden hat.
Die Idee von ?Marktwirtschaft und Freihandel ist eine wunderbare Theorie, die in
der Praxis aber einen ganz entscheidenden Haken hat: Nur unter (zumindest
halbwegs) Gleichen erzeugt die Mechanik von Angebot und Nachfrage in »freiem
Wettbewerb« einen »fairen Preis«. Wer aber wie einst die britischen Opium-Dealer
mit einem Kanonenboot vorfährt, um sein Angebot durchzusetzen, betreibt keinen
»Freihandel«, sondern Erpressung. Und wenn 200 Jahre später, im Zeitalter
»finanzieller Massenvernichtungswaffen« (Warren Buffet), keine Schlachtschiffe
mehr aufkreuzen, sondern »Experten« von IWF, Weltbank oder McKinsey, mag man das
zivilisatorischen Fortschritt oder eben auch »Freihandel« nennen, strukturell
jedoch ist es nach wie vor nichts anderes als Erpressung. In der Zeit des
Kolonialismus waren es etwa ein Dutzend europäischer Nationen, die sich mit dem
Recht des Stärkeren der Bevölkerung und des Reichtums fremder Länder
bemächtigten, im Zeitalter der Globalisierung nun sind es 147 multinationale
Konzerne, angeführt von der Finanzbranche5, die die gesamte Weltwirtschaft
kontrollieren und mit dem Recht des Stärkeren ihre Interessen durchsetzen.
Deshalb, und nur deshalb, werden Freihandelsverträge wie TTIP so geheim
ausgehandelt, dass nicht einmal die Volksvertreter, die den Vertrag beschließen
sollen, daran beteiligt sind. Angeblich ist das alles so »komplex«, dass man
Öffentlichkeit und Politik erst damit konfrontieren kann, wenn es in Tausenden
von Seiten Kleingedrucktem niedergelegt worden ist, die dann niemand mehr liest.
Dabei wäre so ein Handelsvertrag, der angeblich »Win-win« und »Wohlstand für
alle« bedeutet, doch ganz einfach zu erklären: »Also, Europa lässt die Amis ihre
Chlorhühnchen verkaufen, dafür dürfen wir unseren Camembert in die USA liefern.
Macht für unsere Käsereien x-Millionen zusätzlichen Umsatz, und wer die
Chlordinger hier nicht will, kann ja weiter Wiesenhof futtern.« So, oder so
ähnlich, wäre für jedes Produkt einfach darzustellen, ob und wie sich so ein
Vertrag lohnt und welche Vor- und Nachteile er mit sich bringt. Es wären immer
noch viele Seiten, aber sie wären für jeden Bürger nachvollziehbar und in summa
entscheidungsfähig. Aber eben darum geht es bei TTIP nicht, weshalb dieser
angeblich »faire« Vertrag eben auch so geheim verhandelt werden muss: Den
Bürgern, dem Wahlvolk, der ?Demokratie, dem Rechtsstaat sollen grundsätzliche
Entscheidungen aus der Hand genommen und ausländischen »Investoren« – wie die
neuen Kolonialherren in den Verträgen genannt werden – erweiterte Rechte
eingeräumt werden, einschließlich einer privaten Paralleljustiz, bei der sie
Schadensersatz einklagen können, wenn sie sich von Gesetzen eines Landes
benachteiligt fühlen. Ganz so wie die Briten, die sich nach dem gewonnenen
Opiumkrieg von den chinesischen Gesetzen benachteiligt fühlten: Sie verurteilten
den Kaiser von China im Namen des »Freihandels« zu Reparationszahlungen für den
von seinen Zollbeamten vernichteten Stoff.
Was ihr daraus machen werdet: Glokalisierung! Was heißt, dass ihr dafür
sorgen werdet, dass sich globale Investoren an lokale Gegebenheiten anpassen
müssen – und nicht transnationale Konzerne darüber entscheiden, was bei euch vor
der Haustür und in eurem Landkreis geschieht. Ihr werdet euch nicht vor
Innovationen abschotten, ihr werdet keine nationalen oder regionalen Mauern
hochziehen (?Nationen), aber ihr werdet bei allen Entscheidungen zuerst eure
Region im Auge haben. Und auf angemessen sicheren Leitplanken bestehen. Denn nur
so kann in einer globalisierten Welt kulturelle Diversität erhalten und
flächendeckende Uniformisierung verhindert werden, nur so bleiben kleine und
mittlere Unternehmen davor verschont, von Multis geschluckt und stillgelegt zu
werden, und nur so – lokal verwurzelt – könnt ihr wirklich weltoffen werden.
Sven Böttcher, Mathias Bröckers: „Die ganze Wahrheit über
alles. Wie wir unsere Zukunft doch noch retten können“, 336 Seiten, Westend
Verlag 2016