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19.05.2022 00:00 | Teilen
Die Bedeutung des Krieges im 21. Jahrhundert
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, vor 77 Jahren, kennen die Europäer
(mit Ausnahme der ehemaligen Jugoslawen) Frieden auf ihrem Boden. Sie
haben diese ferne Erinnerung vergessen und entdecken den Krieg in der
Ukraine mit Schrecken. Die Afrikaner von den Großen Seen, die ehemaligen
Jugoslawen und die Muslime von Afghanistan, über Libyen bis zum Horn von
Afrika, beobachten sie angewidert: Viele Jahrzehnte lang ignorierten die
Europäer ihr Leid und beschuldigten sie, für das Unglück, das sie
erlitten hatten, verantwortlich zu sein. [Quelle: voltairenet.org]
JWD
Von Thierry Meyssan | Quelle: Voltaire
Netzwerk | Paris (Frankreich) | 17. Mai 2022
Screenshot |
Quelle:
voltairenet.org
Die
Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki entsprachen
keiner militärischen Strategie. Japan beabsichtigte bereits,
sich zu ergeben. Die USA wollten es nur nicht den Sowjets
antun, die begannen, in die Mandschurei einzudringen,
sondern ihnen, den Japanern. |
Der Krieg in der Ukraine begann nach Meinung der einen mit dem
Nationalsozialismus, nach Meinung anderer vor acht Jahren, doch im
Bewusstsein der westlichen Welt ist er erst zwei Monate alt. Sie sehen
einen Teil der Leiden, das er verursacht, aber sie nehmen noch nicht
alle seine Dimensionen wahr. Vor allem interpretieren sie ihn
fälschlicherweise auf der Erfahrung ihrer Urgroßeltern und nicht auf
dem, was sie erleben.
Kriege sind nichts anderes als eine Folge von
Verbrechen
Sobald er losgeht, verbietet der Krieg Nuancen. Er erfordert, dass sich
jeder in einem der beiden Lager positioniert. Diejenigen, die sich nicht
fügen, werden sofort von den beiden Kiefern der Bestie zermalmt.
Das
Verbot von Nuancen zwingt jeden, die Ereignisse neu zu schreiben. Es
gibt nur noch "gute Jungs", uns, und "böse Jungs", die anderen
gegenüber. Die Kriegspropaganda ist so mächtig, dass nach einer Weile
niemand mehr die Fakten von der Art und Weise unterscheidet, wie sie
beschrieben werden. Wir sind alle in die Dunkelheit gestürzt und niemand
weiß, wie man das Licht einschaltet.
Der
Krieg verursacht wahllos Leid und Tod. Es spielt keine Rolle, welcher
Seite man angehört. Es spielt keine Rolle, ob man schuldig oder
unschuldig ist. Man leidet und stirbt nicht nur unter den Schlägen des
Gegenübers, sondern auch kollateral unter denen des eigenen Lagers.
Krieg ist nicht nur Leid und Tod, sondern auch Ungerechtigkeit, die viel
schwerer zu ertragen ist.
Keine der Regeln zivilisierter Nationen bleibt bestehen. Viele geben dem
Wahnsinn nach und verhalten sich nicht mehr wie Menschen. Es gibt keine
Autorität mehr, um jeden mit den Konsequenzen seines Handelns zu
konfrontieren. Auf die meisten Menschen können wir uns nicht mehr
verlassen. Der Mensch ist für den Menschen zum Wolf geworden.
Und dann passiert etwas Faszinierendes. Wenn Menschen sich in grausame
Bestien verwandeln, leuchten andere und ihr Blick erleuchtet uns.
Ich verbrachte ein Jahrzehnt auf den Schlachtfeldern, ohne jemals nach
Hause zurückzukehren. Wenn ich heute Leid und Tod fliehe, werde ich von
diesen Blicken unwiderstehlich angezogen. Deshalb hasse ich den Krieg
und doch vermisse ich ihn. Denn in diesem Gewirr des Grauens leuchtet
immer eine erhabene Form der Menschlichkeit auf.
Die Kriege des 21. Jahrhunderts
Ich möchte Ihnen nun einige Überlegungen vorlegen, die Sie nicht in
diesen oder jenen Konflikt verwickeln, und noch weniger für dieses oder
jenes Lager in Anspruch nehmen. Ich werde nur einen Schleier lüften und
Sie einladen, sich anzusehen, was er verborgen hat. Was ich erwähnen
werde, mag Sie schockieren, aber wir können nur Frieden finden, wenn wir
die Realität akzeptieren.
Die Kriege ändern sich. Ich spreche hier nicht von Waffen und
militärischen Strategien, sondern von den Gründen für Konflikte, von
ihrer menschlichen Dimension. So wie der Übergang vom
Industriekapitalismus zur finanziellen Globalisierung unsere
Gesellschaften verändert und die Prinzipien auflöst, die sie organisiert
haben, so verändert diese Entwicklung auch die Kriege. Das Problem ist,
dass wir bereits unfähig sind, unsere Gesellschaften an diesen
Strukturwandel anzupassen und daher noch weniger fähig sind, über die
Entwicklung des Krieges nachzudenken.
Der
Krieg versucht immer, Probleme zu lösen, die die Politik nicht lösen
konnte. Er kommt nicht, wenn man für ihn bereit ist, sondern wenn man
alle anderen Lösungen eliminiert hat.
Genau das passiert heute. Die amerikanischen „Straussianer“ haben
Russland in der Ukraine unaufhaltsam in die Enge getrieben und ihm keine
andere Wahl gelassen, als in den Krieg zu ziehen. Wenn die Alliierten
darauf bestehen, Russland aufs Äußerste zu bedrängen, werden sie einen
Weltkrieg provozieren.
Die Zeiten zwischen zwei Epochen, in denen es notwendig ist, die
menschlichen Beziehungen zu überdenken, begünstigen diese Art von
Katastrophen. Manche argumentieren weiterhin nach Prinzipien, die ihre
Wirksamkeit bewiesen haben, aber nicht mehr der Welt angepasst sind.
Doch sie schreiten voran und können unbeabsichtigt Kriege provozieren.
Screenshot |
Quelle:
voltairenet.org
In der Nacht vom 9. Mai 1945
bombardierten US-Flugzeuge Tokio. In einer Nacht wurden mehr
als 100.000 Menschen getötet und mehr als 1 Million
obdachlos. Dies ist das größte Massaker an Zivilisten der
Geschichte. |
Wenn in Friedenszeiten Zivilisten vom Militär unterschieden werden,
macht diese Art der Argumentation in modernen Kriegen keinen Sinn mehr.
Die Demokratien haben die Gesellschaftsorganisation der Kasten oder
Stände weggefegt. Jeder kann Kämpfer werden. Masseneinberufungen und
totale Kriege haben diese Unterscheidung zunichte gemacht. Jetzt sind es
die Zivilisten, die das Militär befehligen. Sie sind keine unschuldigen
Opfer mehr, sondern die ersten, die für das allgemeine Unglück
verantwortlich sind, für das das Militär nur die Vollstrecker sind.
Im Mittelalter der westlichen europäischen Welt war der Krieg Sache der
Adligen und nur von ihnen. In keinem Fall haben die Bevölkerungen daran
teilgenommen. Die katholische Kirche hatte Kriegsgesetze erlassen, um
die Auswirkungen der Konflikte auf die Zivilbevölkerung zu begrenzen.
All dies entspricht nicht mehr dem, was wir erleben und basiert auf
nichts mehr.
Die Gleichstellung der Geschlechter hat auch die Paradigmen umgekehrt.
Soldaten sind jetzt nicht nur Frauen, sondern sie können auch zivile
Kommandeure sein. Fanatismus ist nicht mehr die Exklusivität eines
vermeintlich starken Geschlechts. Manche Frauen erweisen sich als
gefährlicher und grausamer als manche Männer.
Wir sind uns dieser Änderungen nicht bewusst. Jedenfalls ziehen wir
daraus keine Schlüsse. Dies führt zu bizarren Stellungnahmen, wie der
Weigerung der westlichen Länder, die Familien der Dschihadisten, die sie
auf die Schlachtfelder gehen ließen, zu repatriieren und vor Gericht zu
stellen. Man weiß, dass viele dieser Frauen viel fanatischer sind als
ihre Ehemänner. Man weiß, dass sie eine viel größere Gefahr darstellen.
Aber niemand sagt es. Man zieht es vor, kurdische Söldner zu bezahlen,
um sie mit ihren Kindern in so weit wie möglich entfernten Lagern
einzusperren.
Nur die Russen haben die Kinder, die bereits von dieser Ideologie
infiziert waren, repatriiert. Sie vertrauten sie ihren Großeltern an, in
der Hoffnung, dass es ihnen gelingen würde, sie zu lieben und für sie zu
sorgen.
Seit zwei Monaten haben wir ukrainische Zivilisten willkommen geheißen,
die vor den Kämpfen geflohen sind. Es sind nur Frauen und Kinder, die
leiden. Wir treffen also keine Vorsichtsmaßnahmen. Doch ein Drittel
dieser Kinder wurde in den Ferienlagern der Bandera-Anhänger
ausgebildet. Sie lernten dort den Umgang mit Waffen und die Bewunderung
für den Verbrecher gegen die Menschlichkeit Stepan Bandera.
Screenshot Video |
Quelle:
voltairenet.org
|
zum Video - Bild klicken -
Video (Bild
klicken)
Ferienlager in
der Ukraine nach Angaben einer atlantischen Tageszeitung.
Quelle: « Le Monde » (2016). |
Die Genfer Konventionen sind nur ein Rest der Zeit, in der wir noch als
Humanisten dachten. Sie entsprechen keiner Realität mehr. Diejenigen,
die sie beachten, tun dies nicht, weil sie sich dazu verpflichtet
fühlen, sondern weil sie hoffen, human zu bleiben und nicht im Ozean der
Verbrechen zu versinken. Der Begriff "Kriegsverbrechen" macht keinen
Sinn, da der Zweck des Krieges darin besteht, Verbrechen am laufenden
Band zu begehen, um den Sieg zu erringen, der mit zivilisierten Mitteln
nicht erreicht werden konnte. Und in einer Demokratie ist jeder Wähler
mitverantwortlich.
In der Vergangenheit hatte die katholische Kirche Strategien gegen
Zivilisten, wie die Belagerung von Städten, mittels Exkommunikation
verboten. Abgesehen von der Tatsache, dass es heute keine moralische
Autorität mehr gibt, um den Respekt vor Regeln zu veranlassen, ist
niemand schockiert über die "Wirtschaftssanktionen", die ganze Völker
betreffen, bis hin zu tödlichen Hungersnöten, wie es gegen Nordkorea der
Fall war.
Angesichts der Zeit, die wir brauchen, um Schlussfolgerungen aus unserem
Handeln zu ziehen, betrachten wir bestimmte Waffen weiterhin als
verboten, während wir sie selbst einsetzen. Zum Beispiel hatte Präsident
Barack Obama erklärt, dass der Einsatz chemischer oder biologischer
Waffen eine rote Linie sei, die nicht überschritten werden sollte, aber
sein Vizepräsident Joe Biden hat in der Ukraine ein riesiges
Forschungssystem zu diesem Thema installiert. Die einzigen, die sich
selbst jede Massenvernichtungswaffe verbieten, sind die Iraner, seitdem
Imam Ruhollah Khomeini sie moralisch verurteilt hat. Genau sie sind es,
die nichts dergleichen tun, denen wir vorwerfen, eine Atombombe bauen zu
wollen.
In der Vergangenheit wurden Kriege erklärt, um Territorien zu erobern.
Am Ende wurde ein Friedensvertrag unterzeichnet, um das Kataster zu
ändern. Im Zeitalter der sozialen Netzwerke geht es weniger um
territoriale und mehr um ideologische Fragen. Krieg kann nur mit der
Diskreditierung einer Denkweise enden. Obwohl die Territorien den
Besitzer gewechselt haben, haben einige der jüngsten Kriege zu
Waffenstillständen geführt, aber keiner zu einem Friedensvertrag und zu
Reparationen.
Wir können deutlich sehen, dass der Krieg in der Ukraine trotz des
vorherrschenden Diskurses im Westen nicht territorial, sondern
ideologisch ist. Übrigens ist Präsident Wolodymyr Selenskyj der erste
Kriegsherr der Geschichte, der mehrmals am Tag offiziell spricht. Er
verbringt viel mehr Zeit mit Reden, als seine Armee zu befehligen. Er
schreibt seine Interventionen um historische Bezüge herum. Wir reagieren
auf Erinnerungen, die er dabei hervorruft, und ignorieren, was wir nicht
verstehen. Zu den Engländern spricht er wie Winston Churchill, sie
applaudieren ihm; die Franzosen erinnert er an Charles De Gaulle, sie
applaudieren ihm; usw... Für alle schließt er mit: "Ehre der Ukraine!";
sie verstehen nicht die Anspielung, aber sie finden sie hübsch.
Jene, die die Geschichte der Ukraine kennen, erkennen den Kriegsruf der
„Banderisten“. Genau den, welchen sie riefen, während sie 1,6 Millionen
ihrer Mitbürger massakrierten, darunter mindestens 1 Million Juden. Aber
wie könnte ein Ukrainer zum Massaker anderer Ukrainern aufrufen und ein
Jude, um Juden zu massakrieren?
Unsere Unschuld macht uns taub und blind.
Screenshot |
Quelle:
voltairenet.org
Zum ersten Mal in einem Konflikt
zensierte eine der Parteien feindliche Medien, bevor der
Krieg begann. RT und Sputnik wurden in der Europäischen
Union geschlossen, weil sie das, was kommen sollte, hätten
in Frage stellen können. Nach den russischen Medien beginnt
man jetzt oppositionelle Medien zu zensieren. Die Website
des Voltaire-Netzwerks, Voltairenet.org, ist in Polen auf
Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates seit einem Monat
zensiert. |
Der Krieg ist nicht mehr auf das Schlachtfeld beschränkt. Es wird
unerlässlich, die Zuschauer zu erobern. Während des Krieges in
Afghanistan erwogen US-Präsident George W. Bush und der britische
Premierminister Tony Blair, den Satellitenfernsehsender Al-Jazeera zu
zerstören. Er hatte keinen Einfluss auf die Kriegführenden, gab aber den
Zuschauern der arabischen Welt zu denken.
Beachten Sie, dass französische Forscher nach dem Irakkrieg 2003
dachten, dass sich die militärische Kriegsführung in kognitive
Kriegsführung verwandeln könnte. Wenn Saddam Husseins
Massenvernichtungswaffen-Fabel auch nur wenige Monate durchgehalten
hatte, war die Art und Weise, wie die Vereinigten Staaten und das
Vereinigte Königreich sie angewendet haben, um von allen akzeptiert zu
werden, perfekt. Letztlich hat die NATO zu ihren üblichen fünf
Interventionsbereichen (Luft, Land, See, Weltraum und Kybernetik) einen
sechsten hinzugefügt: das menschliche Gehirn. Wenn das atlantische
Bündnis es auch derzeit vermeidet, Russland in den ersten vier Bereichen
zu konfrontieren, befindet es sich bereits in den letzten beiden
Gebieten im Krieg.
Mit der allmählichen Ausweitung der Interventionsbereiche verschwindet
der Begriff des kriegerischen Handelns. Es sind nicht mehr Männer, die
aufeinanderprallen, sondern Denksysteme. Der Krieg globalisiert sich
also. Während des Krieges in Syrien schickten mehr als sechzig Staaten,
die nichts mit diesem Konflikt zu tun hatten, Waffen dorthin, und heute
schicken etwa zwanzig Staaten sie in die Ukraine. Da wir die Ereignisse
nicht sofort verstehen, sondern sie im Licht der alten Welt
interpretieren, glaubten wir, dass die westliche Waffen von der
syrischen demokratischen Opposition eingesetzt wurden, während sie aber
an die Dschihadisten gingen, und wir sind überzeugt, dass sie an die
ukrainische Armee gehen und nicht an die Banderisten.
Der Weg in die Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.
Thierry Meyssan
Autor: Thierry Meyssan | Übersetzung: Horst Frohlich |
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser
Dieser Beitrag ist unter Lizenz der Creative Commons (CC
BY-NC-ND)
|
Thierry Meyssan: Politischer Berater,
Gründer und Präsident vom Voltaire Netzwerk - Réseau Voltaire. Letztes
französisches Werk: Sous nos yeux - Du 11-Septembre à Donald Trump. |
Link zum Originaltext mit weiteren Leseempfehlungen
bei ' voltairenet.org '
..hier
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